Um sich dem Thema Gerechtigkeit anzunähern, braucht es zuerst einen Ausgangspunkt. Wie kann man ein gerechtes Leben und Sein definieren, wenn doch jeder unterschiedlich damit umgeht? Um eine Definition zu finden, habe ich mir philosophische Ansätze angeschaut. Ich habe mich für zwei Theorien entschieden, die sich in meinen Augen gut ergänzen und leicht verständlich sind.
Da gibt es zum einen den Konstruktivismus und zum anderen John Rawls, ein amerikanischer Philosoph, der mit seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ ein einflussreiches Werk der politischen Philosophie verfasst hat. Beide Theorien sind in meinen Augen wichtig, um sich klarzumachen, welche Sachverhalte für die Gerechtigkeit eine Rolle spielen.
Der Konstruktivismus geht in seinen Grundregeln davon aus, dass ein Weltbild immer subjektiv ist und sich jeder seine eigene Wirklichkeit kreiert. Ebenso, wie es Pippi Langstrumpf sang: “Ich mache mir die Welt, widewidewie sie mir gefällt”. Eine Wirklichkeit, die für alle gleich ist, gibt es nicht. In dieser Definition der Wirklichkeit geht es aber weniger um das “Was” als vielmehr um das “Wie”. Denn ein Apfel ist optisch und haptisch für jedermann ein Apfel. Aber der Sinn eines Apfels, kann für jeden verschieden sein. Ein Apfel kann für den einen Evas Sündenfall bedeuten, ein anderer sieht darin die Basis für einen Apfelkuchen, den seine Oma immer gebacken hat. So kann ein Mensch, der das Alte Testament sehr ernst nimmt, in einem Apfel eine Teufelsfrucht sehen, während ein anderer nicht im Entferntesten daran denkt, dass an einem Apfel irgendetwas Schlechtes sein könnte.
Sollte ein Apfel zwischen diesen beiden Menschen einmal ein Diskussionsgrund werden, kann man absehen, dass sich beide in diesem Punkt niemals einigen würden, da beide Ansichten ihre Berechtigung haben, aber doch völlig verschieden sind und auch keine Schnittmengen haben. Nur wenn man sich darauf einigt, dass ein Apfel sowohl als auch sein kann, kann man eine endlose Diskussion umgehen.
Man muss also festhalten, dass die Wahrheitsfindung immer durch ein individuelles Weltbild geprägt ist und somit auch immer einzigartig ist. Eine absolute Wahrheit existiert nicht. Jedenfalls nicht, wenn es um den Sinn von Dingen geht.
Wenn es keine absolute Wahrheit gibt, wie kann man dann Gesetze entwickeln, die für jeden gelten?
John Rawls kreierte dafür das Gedankenexperiment um den Schleier des Nichtwissens. Nur ein absolut neutraler und objektiver Mensch kann Entscheidungen treffen, die für alle gelten. Mit dem Schleier ist also ein kognitiver Zustand gemeint, der alle Gedanken und Überlegungen ausschließt, die sich um den Ausgang einer Entscheidung drehen. Mit diesem Zustand ist es möglich eine Entscheidung absolut neutral zu treffen, da man alle eigenen Belange ausklammern kann. Dazu ein Beispiel.
Es muss eine Entscheidung gefällt werden über einen Baum, der zwischen zwei Nachbarn steht. Die eine Partei möchte, dass der Baum gefällt wird, die andere Partei will, dass der Baum stehen bleibt. Da der Baum genau in der Mitte wächst, hat keiner der beiden Parteien ein mehrheitliches Vorrecht.
Damit derjenige, der die Entscheidung in diesem Fall trifft, diese Entscheidung auch wirklich unter dem Schleier des Nichtwissens treffen kann, darf er in keinem verwandtschaftlichen oder freundschaftlichen Verhältnis zu den beiden Parteien stehen. Dieser Grundsatz ist durch die Befangenheitsklausel (Dem Mitwirkungsverbot bei Befangenheit) abgedeckt. Weiterhin darf der Entscheidende selbst niemals so einen Fall erlebt haben, da ihn ein solches Erlebnis in seiner Neutralität beeinflussen könnte. Auch darf er keinen Nutzen durch die Entscheidung, die er trifft, haben. Dieser Nutzen ist mannigfaltig auslegbar. So darf es keinerlei Bestechung geben, die die Entscheidung beeinflusst, auch das ist in unserem Rechtssystem berücksichtigt. Aber es darf auch keinen gedanklichen Nutzen geben, der den Entscheidenden beeinflussen dürfte. So wäre eine kleine Sympathie mit einer der Parteien schon zu viel, um den Schleier des Nichtwissens wahrlich aufrecht zu erhalten. Es würde schon ausreichen, dass der Entscheidende eine Sympathie für Bäume hätte und schon könnte er nicht mehr objektiv entscheiden.
Der Entscheidende dürfte auch nicht wissen, ob sich, nachdem er die Entscheidung getroffen hat, irgendetwas für ihn ändert, und mag die Veränderung auch noch so winzig sein.
Durch den Schleier des Nichtwissens sind alle Bedeutungen, die der Entscheidende sich selbst zuschreibt, vergessen, denn nur wenn man keine eigenen Belange in jedweder Art mitbedenken muss, kann man wirklich objektiv und fair beurteilen. Doch halt, aber wenn man alle Belange ausklammert und keine Bedeutung für sich selbst hat, kann man den Dingen an sich dann noch Bedeutung beimessen? Wie kann ich mir vorstellen, was ein Baum für jemanden bedeutet, wenn ich selbst keine persönliche Bedeutung für ihn habe?
Es gibt also keine absolute Wahrheit und somit kann es auch keine absoluten Gesetze geben. Gerechtigkeit ist also immer nur ein Ausschnitt dessen, was zur Zeit der Definition von den Definierenden in Betracht gezogen wurde. Nur das, was zu dieser Zeit vorstellbar war und auch diejenigen selbst betraf oder schon mal betroffen hatte, konnte zum endgültigen Gesetz führen.
Gerechtigkeit ist also bestimmt von den Erfahrungen eines jeden. Was für mich nicht vorstellbar ist, kann ich auch nicht gerecht bewerten.
Hierin zeigt sich implizit das Drama der modernen globalisierten Welt. Zum einen wird natürlich immer mehr vorstellbar, was kein Drama sondern auch ein Gewinn ist, aber zum anderen heißt das auch, dass Urteile gefällt werden, deren Tragweite man nicht einschätzen kann, da man gar nicht alles kennen was dazu führt.So sagte schon Aristoteles, dass der Maßstab, nach dem eine Gruppe urteilt, von den sozioökonomischen Bedingungen, in welcher sie sich befinden, abhängt.
Wie kann ich beispielsweise gerecht über eine Kultur urteilen, die ich nicht kenne oder von der mir nur oberflächliche Fakten bekannt sind?
Existenziell wichtig für eine Gerechtigkeitsfindung ist es also, möglichst viele Fakten zu kennen und auch selbst ein möglichst offener und auch erfahrener Mensch zu sein, da ein Urteil sonst nicht gerecht ausfallen kann.