Ist die Demokratie der westlichen Welt noch glaub- und vertrauenswürdig? Nach dem Brexit und Donald Trump, als neuer Präsident der USA, hat die Demokratie in den Augen vieler an Wert verloren. Trotz demokratischer Wahlen, in der sich die Mehrheit für den Brexit und Donald Trump entschieden haben, schlagen allerorts Menschen die Hände über dem Kopf zusammen und beschwören den Niedergang der Demokratie mit diesen Ereignissen herauf. Wie nur konnten die Wähler es zulassen, dass solch unvernünftige Entscheidungen getroffen wurden? Auch in Deutschland wird mit den Meinungen von Teilen der Bevölkerung gehadert. Die AFD erfreut sich über stetigen Erfolg und sieht den kommenden Wahlen freudig entgegen. Trotz eines so aufgeklärten Zeitalters entscheiden sich viele Wähler nicht für die Vernunft, sondern lassen sich auf Populisten ein und folgen deren Parolen. Wenn sich so viele Wähler auf diese „Bauernfänger“ einlassen, kann man ihnen dann überhaupt noch eine Wahl anvertrauen?
Parteimitglieder wie der FDP-Chef Dirk Pfeil macht seinen Zweifel an der Wahlunmündigkeit der Wähler deutlich. In einem Interview sagt er der Frankfurter Neuen Presse “Es ist schlimm, dass die Mehrheit der Bevölkerung keine politische Bildung genossen hat. Die Masse ist meinungslos, sprachlos.” Auf die Frage, ob die Wähler zu ungebildet sind um die FDP zu verstehen antwortet er: “Die Masse ja.” Außerdem verzweifle er “am mangelnden Willen der Wähler, sich ein bisschen schlauer zu machen.” Auch andere Politiker zweifeln an der Mündigkeit der Wähler oder appellieren an sie, die eigene Stimme nicht zu verschenken an eine Partei wie die AFD.
Man kann sagen, dass die Wahlmündigkeit der Wähler angezweifelt wird. Er informiert sich nicht und verschenkt seine Stimme an Populisten. Dabei sind es meist nicht alle Wähler, die in Verdacht stehen „falsch“ zu wählen. Es sind bestimmte Gruppen die verantwortlich gemacht werden für das Übel. Schuld sind die Alten und Ungebildeten, sowohl an der AFD, als auch am Brexit und an Donald Trump. Analysen die Aufschluss darüber geben, wer wen wählt sind populär wie nie. Das Interesse daran wächst und es scheint, als würde verzweifelt nach einem Schuldigen gesucht, der für diese politischen Entwicklungen verantwortlich gemacht werden kann.[1] In sozialen Netzwerken und auch in der Öffentlichkeit ist das Bashing der vermeintlich Schuldigen groß. AFD-Anhänger werden von Profilen verbannt und bei öffentlichen Auftritten der AFD beschimpft und bedrängt. Trump Anhänger werden geächtet, so wie im Falle eines Esseners, der eine Burger Bude betreibt. Ihm gehen die Kunden aus, seit er öffentlich erklärt hat für Trump zu sein.
Es gibt in den Augen vieler gute und schlechte Wähler. Die Guten klopfen sich auf die Schulter und loben sich dafür das einzig Richtige zu tun. Die Bösen werden beschimpft, ausgeschlossen und zur nationalen Bedrohung gemacht. Ist dieses Verhalten mit Meinungsfreiheit zu vereinbaren?
Es ist einfach einen Sündenbock zu erklären und alles auf ihn zu schieben. So lassen sich alle Probleme leicht erklären. Wie es allerdings zu den Problemen gekommen ist und was sich dagegen tun ließe, bleibt dabei aus.
Die Ursachen für diese Wahlentscheidungen werden zwar von den Medien immer wieder thematisiert, ein Umgang damit aber nicht oder nur zögerlich gefunden.
Sowohl im Falle Trump wie auch beim Brexit resultierte die Entscheidung aus verletzten Gemütern und einen, über jahrzehntelangen entstandenen Verdruss, auf Politik und die Landesführung. Viele fühlten sich von der führenden Regierung nicht repräsentiert und verstanden. Sie hatten das Gefühl übergangen zu werden und keine Verbindung mehr zu ihrer Führung zu haben, die Politik hingegen unternahm mehr und mehr im Alleingang, wie im Beispiel der Flüchtlingskrise (die auch genutzt wurde, um in Großbritannien und in den USA Stimmung gegen Einwanderer zu machen). Das hatte ein Großteil der Bevölkerung satt. Protest wurde laut und wenn einzelne Stimmen nicht gehört werden, suchen sie sich einen, der ihnen eine Stimme gibt. Ungeachtet dessen, ob dieser Stimmträger dann auch in Gänze fähig und willig wäre, diese Stimmen durchzusetzen. Die jahrelang entstandene Wut verlangte nach Entladung und daher war es sowohl für die Brexit Vorreiter als auch für Donald Trump ein Leichtes dieser Stimme Gewicht zu verleihen. Sie sprachen dem wütenden Bürger mit ihren Worten und ihren Argumenten aus der Seele und bekamen den Zuspruch jener, die sich jahrelang nicht gehört und beachtet fühlten. Die Entscheidung der Mehrheit war also nicht getrieben von Verstand, sondern von Emotionen und Emotionen haben keinen Verstand. Sie wollen nur gehört und verstanden werden. Das ist oft wichtiger als die vordergründig rationale Entscheidung.
Die mehrheitlichen Wähler kann man nicht als dumm und ungebildet beschreiben, sondern nur als wütend und verdrossen. Sie wollten wieder eine Stimme haben, sie wollten etwas bewegen können, auch wenn das hieße eine wahnsinnige Entscheidung zu treffen.
Es geht also nicht darum der Mehrheit abzusprechen wahlfähig zu sein, nein, es geht vielmehr darum die Bürger mehr in demokratische Entscheide mit einzubinden. Viel früher und transparenter und nicht erst dann, wenn nichts mehr zu retten ist. Eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn alle Beteiligten eine Stimme haben und die Entscheidungen im Sinne der Mehrheit getroffen werden.
Wenn sich das Volk nicht richtig vertreten fühlt, geschieht was derzeit passiert. Das Volk rächt sich für sein Übergangen werden und es ist an der Politik, ihr Vertrauen zurückzugewinnen. Aber wie kann das gehen?
Demokratie kann unterschiedliche Gewänder haben. Jeder Staat legt Demokratie anders aus. In der Schweiz gibt es eine direkte Demokratie. Die Stimmbürger aller Gemeinden, Kantonen und Bundesstaaten gelten als oberste Gewalt und entscheiden in allen Sachfragen abschließend. Viermal jährlich finden Volksabstimmungen statt, in welcher die Bürger in bis zu 10 Entscheiden über Sachfragen, Gesetze und auch über Haushaltsvorschläge abstimmen können. Die direkte Demokratie ist in der Schweiz eine der beliebtesten politischen Grundlagen.
Direkte Demokratie wird attraktiv. Das Bedürfnis der Bürger nach mehr Selbstbestimmung in politischen Fragen wächst. Auch andere Länder lassen vermehrt Sachverhalte per Volksentscheid zu. Der deutsche EU-Parlamentsabgeordnete und Mitbegründer des Vereins “Mehr Demokratie” Gerald Häfner befürwortet diese Entwicklung. Er sieht aber auch die Schwachstellen in den Volksentscheiden anderer Länder. Denn die Sachverhalte über die abgestimmt wird, werden von der Politik entschieden und nicht wie in der Schweiz, in der fakultative Referenden und Volksinitiativen von den Bürgern ausgehen. Über welche Entscheide abgestimmt wird, liegt hier nicht in den Händen der Politik. Nach Häfner kann direkte Demokratie nur funktionieren, wenn sowohl der abzustimmende Sachverhalt als auch die Abstimmung vom Volk ausgeht oder ausgehen kann. Volksabstimmungen wie sie z.B. in Großbritannien durchgeführt wurden sind in seinen Augen nur ein taktisches Mittel zur Bestätigung der Machthabenden und hat mit wirklicher Mitbestimmung der Bürger wenig zu tun. Auch der Politikwissenschaftler David Altmann sieht in dieser Art der Volksabstimmung eher einen volksschädigenden als einen wirklich demokratischen Geist.
Ein gutes Beispiel hierfür ist der Brexit. David Cameron, ein Mann dem sein politischer Aufstieg mit Hilfe seines Europa Skeptizismus gelang, der aber eigentlich ein Modernisierer sein wollte. Seine europaskeptische Partei hat ihm zu dem verholfen was er geworden war, mit Parteivorsitz in Brüssel. Er konnte nicht einfach kehrt machen und sagen “Europa ist eine super Sache”. Er war seiner Partei etwas schuldig. Als der Druck zu hoch wurde, tat er was wohl jeder tut, der in die Enge getrieben wird. Er versuchte sich daraus zu befreien und das tat er mit einem, in seinen Augen, sicheren Mittel, denn es war nicht damit zu rechnen, dass dieser Umstand wirklich jemals eintreten würde. Er gab das Versprechen, sollte er alleiniger Entscheider sein, würde er ein Referendum aufstellen über den Verbleib Großbritanniens in der EU. Aber es kam alles anders. Er hatte weiterhin Erfolg, die Konservativen gewannen die absolute Mehrheit und Cameron war Alleinentscheider. Nun musste er sein Versprechen einhalten und das Referendum zu lassen. Als es Cameron zu viel wurde, sprang Boris Johnson auf den Brexit auf und auch er nutzte diesen für seine Zwecke. Beide, Cameron und Johnson hatten nicht damit gerechnet, dass ihr Volk wirklich mit einem “Ja” stimmen könnte. Aber sie taten es!
David van Reybrouck sieht im Brexit das demokratische Versagen der momentanen Form der Demokratie. Politiker die politische Entscheidungen instrumentalisieren für ihre eigenen Zwecke, Medien die nicht richtig aufklären und ein Volk das frustriert ist von der herrschenden Politik. Sie lassen sich fangen von Populisten, die ihnen sagen was sie hören wollen, richtige Inhalte kommen aber nicht an bei den Wählern. So treffen sie eine Wahlentscheidung mit ungenauer Wissensgrundlage. Van Reybrouck sieht in den vorherrschenden demokratischen Wahlen ein primitives Instrument. Er sieht die Macht nicht beim Volk, sondern bei den Medien und den Parteien. Die Medien beeinflussen und prägen die politischen Debatten und die führenden Parteien nutzen ihren Hoheitsanspruch aus. Mit Nähe zum Bürger hat das wenig zu tun, zumal Parteien und Bundespolitiker nicht vertrauenswürdig erscheinen. Das Vertrauen in die deutschen Spitzenpolitiker bewegt sich prozentual gesehen im einstelligen Bereich. Mehr Vertrauen wird den Landespolitikern entgegengebracht. Man kann mutmaßen, dass das auch an der direkten Nähe zum Bürger liegt.
Auf Bundesebene werden Wähler in van Reybroucks Augen wie „Wahlvieh“ behandelt. Sie sollen ihre Stimme abgeben werden, aber den Rest der Legislaturperiode nicht für voll genommen. Wähler sollten aber wie Erwachsene behandelt werden, nur dann fühlen sie sich auch ernst genommen und es kann eine wirkliche Macht vom gesamten Volk ausgehen.
Mit G1000 hat van Reybrouck ein Wahlsystem gegründet, was auf Rousseau und Montesquie zurückgeht. Das System funktioniert durch Losentscheid. Van Reybrouck hat es bereits getestet. In einem offenen Verfahren, dass online ausgetragen wurde und an dem alle Bürger Belgiens teilnehmen konnten, wird die Tagesordnung bestimmt. Die Punkte werden somit mehrheitlich entschieden und nicht von den Organisatoren vorgegeben. Nach Abschluss der Umfrage wurden 1000 Menschen eingeladen, um auf einer Tagung über die beschlossenen Themen zu diskutieren. Ausgewählt wurden Menschen aus allen Schichten, ungeachtet welchen Hintergrund und Lebensweise sie hatten. Mediatoren leiteten die Diskussion, so dass alle Meinungen gehört wurden und mit in die endgültige Entscheidung mit einfließen konnten. Es war ein erfolgreiches Unterfangen auch wenn nur 700 der 1000 Ausgewählten erschien. Arbeiter, Akademiker und Obdachlose saßen zusammen und berieten über Themen wie den Sozialstaat, Migration und andere politische Themen und das in respektvollem Miteinander. Für alle Teilnehmer war es eine außergewöhnliche Erfahrung, die sie sicher zum Nachdenken brachte.
Mit der Politik ist es ein bisschen wie mit der Schule. Lernen ist etwas ganz Natürliches und etwas was jeden Menschen erfüllt und erfreut, wenn er es ohne Druck und Zwang tun kann. Politik und somit Entscheidungen die über die Gemeinschaft abstimmen, ist ebenfalls etwas ganz Natürliches und Spannendes, wenn man alle Beteiligten mit einbezieht, ihnen eine Stimme gibt. Wenn man die Stimmen aber kastriert und sie immer wieder enttäuscht, dann verlieren sie ihre Lust daran, so mitzuwirken, wie es von ihnen verlangt wird. Es geht also darum, den Ausgangszustand wieder herzustellen. Jeder sollte tun dürfen was ihm zusteht. Nur so ist es möglich die Gesellschaft als Ganzes zu heilen, wie es der Philosoph Kwasi Wireda ausdrückt.